Eine Bushaltestelle, ein Platz, ein paar Blocks an einer Ausfallstraße. Aus dem Bus steigt Zohra Hamadi, Metallstangen im Rücken. Sie geht aufrecht, kann endlich frei atmen. Doch Europa gewährt ihr nur ein paar Tage Gegenwart. Zohra Hamadi entscheidet sich, nach der Zukunft zu greifen.
EUROPE erzählt die Geschichte einer staatlich erzwungenen Fiktionalisierung.
Die Bushaltestelle „Europe“ liegt an einer Ausfallstraße der französischen Stadt Chatellerault in einem kleinen Banlieue. Ein paar Blocks, eine Brasserie, ein Kebabladen und ein Bus, der zwischen Krankenhaus und Wald, einem Naherholungsgebiet vor der Stadt pendelt. Hier lebt Zohra Hamadi, 32, deren Sommer mit dem Ende einer langen Krankengeschichte beginnt. Zum ersten Mal in ihrem Leben kann Zohra aufrecht gehen, fast schmerzfrei – sie könne ab jetzt ein ganz normales Leben führen, sagt der Arzt, dem sie ihre körperliche Freiheit verdankt. Ein ganz normales Leben: Zohra hat ihre Wohnung in einem der Blocks, rundherum wohnen Familie und Freunde, Arbeit hat sie bei einer NGO gefunden, die mit Altkleidern handelt. Wäre da nur nicht ihr Ehemann Hocine, der in Algerien darauf wartet, endlich ein Visum im Rahmen der Familienzusammenführung zu bekommen und das nächste Flugzeug zu Zohra nach Frankreich zu besteigen.
Es ist Sommer, Ende Juli, und ganz Frankreich bereitet sich auf die Ferien vor, diesseits und jenseits des Mittelmeers. Zohra braucht nur noch die Verlängerung ihrer Aufenthaltsgenehmigung, dann wird auch sie aufbrechen, um wenigstens ein paar Wochen mit Hocine in den algerischen Bergen zu verbringen. Doch die Verlängerung bleibt aus: Mit dem Ende ihrer Behandlung verliert Zohra ihr Aufenthaltsrecht in Frankreich. Sie wird – für ihr Umfeld wie für das Kinopublikum – zu einer in die Unsichtbarkeit verbannten, zum Schweigen gebrachten Protagonistin. Nur durch die Augen und die Reaktionen der anderen wird spürbar, wie Zohra um die Rettung ihres Lebens in der ersehnten Normalität ringt: wie sie keine Schwäche zeigen will, sich in Lügen verstrickt, wie ihre Welt bröckelt. Zohra verliert ihre Arbeit und ihre Wohnung. Familie und Freunde brechen auf, sie bleibt allein zurück in einer entleerten Welt.
Diese entleerte Welt wird für Zohra, ausgestattet mit einer Handvoll Schlüssel für die Wohnungen der anderen, zur Bühne. Sie wird sichtbar, indem sie ihre Zukunft erfindet, und nicht nur eine, sondern verschiedene, die sie in Varianten durchspielt. Ihre Fiktionen, mal subtil, mal anmaßend bürgerlich, surfen knapp über dem Boden der Tatsachen und ziehen uns in ein Verwirrspiel parallel sich entfaltender Realitäten. Sie lebt mit Hocine oder auch nicht, hat eine Familie, vielleicht, einen neuen Job, eine Aufenthaltsgenehmigung.
Mit dem Wiedererlangen ihrer fiktionalen Sichtbarkeit beginnt für Zohra der Kampf um ihren Platz in Europa, auch wenn sie dafür immer häufiger das Szenario wechseln muss. Dadurch bekommt sie etwas Transparentes, Geisterhaftes – aus der Flüchtenden wird eine Flüchtige, die sich dem systematischen Griff der staatlichen Gewalten entzieht.
Zur Entstehungsgeschichte von EUROPE
Rhim Ibrir träumt.
Es ist schön. Es ist draußen. Es ist nicht kalt, es ist nicht zu warm. Es ist ein kleiner Garten. Der Duft der Pflanzen, der Minze. Man hört die Vögel. Es ist ein Garten umgeben von einer Hecke. Hinter mir ist ein großes Fenster, das zum Wohnzimmer gehört. Vom Wohnzimmer tritt man durch die Tür in den gepflegten, wohl angelegten Garten. Was ich vor mir sehe? Bäume, ein paar Kinderspielsachen, eine zweisitzige Gartenbank. Niemand ist da außer mir. Es ist, als wenn man eine kleine Pause macht, um einen Kaffee zu trinken.
Wir begegnen Rhim Ibrir 2014 bei den Recherchen zu HAVARIE. Obwohl sie damals schon in Chatellerault lebt, führt der Weg zu ihr über Algerien, über Erzählungen von ihr. Es ist Sommer. Dreharbeiten in Chatellerault. Es entsteht Material, das später nicht im Film zu sehen sein wird. Zu hören schon – fragmentarische Erinnerungen an Algerien, die schwere Erkrankung, die Behandlung, das Warten. Warten auf die nächste OP, auf die Aufenthaltsgenehmigung, auf den Ehemann, auf das andere, das richtige, das „ganz normale“ Leben.
Die Fertigstellung von HAVARIE bringt Abwechslung in die endlosen Warteschleifen. Rhim Ibrir fährt auf Filmfestivals, sieht Filme, findet Gefallen am kinematografischen Leben. Und auch die Kamera hat Gefallen an Rhim Ibrir gefunden. Etwas ist geblieben, eine Intensität als Abdruck im visuellen Gedächtnis.
Rhim Ibrir blickt in die Kamera.
Ich lache. Man sieht es an meinen Augen – In meinem Gesicht siehst du sofort ob es mir gut oder schlecht geht. Das sagt jeder. Das heißt aber auch: Ich kann nichts verstecken.
Rhim Ibrir wird die Romanfigur Zohra Hamadi. Zohra Hamadi fährt nach Chatellerault, steigt an der Haltestelle „Europe“ aus dem Bus und trifft Rhim Ibrir. Sie sind einander sympathisch. Ein neuer Film entsteht.
Szenische Proben. Drehorte. Community. Casting.
Der Markt. Das Einkaufszentrum. Das Naherholungsgebiet. Das Krankenhaus.
Freunde und Freundinnen. Familie. Der Arzt. Ein Busfahrer. Die Kolleginnen.
Dokumentarisches und Fiktion verschmelzen.
Rhim Ibrir spricht über Zohra Hamadi.
Es ist nicht die Art Film, der dir vorschreibt, was du machen musst, weil es die Geschichte so vorgibt. Und später, wenn der Film vorbei ist, kann „Zohra“ wieder in ihr Leben zurückkehren. Aber hier – sie spielt all das, aber es ist kein Spiel für sie. Für sie ist es wahr, was sie spielt. Der Film hört nicht auf. Selbst wenn sie den Film verlässt, lebt sie immer noch das, was sie gespielt hat.
Eine Koproduktion mit pong film, Haut les Mains, Région Auvergne-Rhône-Alpes /CNC, RBB
Drehbuch gefördert von BKM; Produktion gefördert von BKM, Eurimages, MBB, Région Nouvelle-Aquitaine mit dem CNC, Film- und Medienstiftung NRW, FFHSH
105′ – Kinoverleih Deutschland: Grandfilm – Premiere im Forum der Berlinale 2022
CAST
Zohra Rhim Ibrir
Arzt Thierry Cantin
Busfahrer Didier Cuillierier
Nesrins Tochter Khadra Khadra Bekkouche
Nesrins Tochter Imane Nouria Lakhrissi
Nesrin Sadya Bekkouche
Farid Hassane Ziani
Oma Zoulikha Ibrir
Zohras Kollegin Amandine Demuynck
Nachbarin (Hostess) Nawel Kefif
Physiotherapeut Frédéric Guesdon
Nachbarin (Paar) Sarah Boukhennoufa
Nachbar (Paar) Nordine Kefif
Sachbearbeiter Präfektur Thomas Blanchard
Kollegin Sachbearbeiter Jane Resmond
Anwältin Laurence Masliah
Omar Marwane Sabri
Crew
Zohra Rhim Ibrir
Arzt Thierry Cantin
Busfahrer Didier Cuillierier
Nesrins Tochter Khadra Khadra Bekkouche
Nesrins Tochter Imane Nouria Lakhrissi
Nesrin Sadya Bekkouche
Farid Hassane Ziani
Oma Zoulikha Ibrir
Zohras Kollegin Amandine Demuynck
Nachbarin (Hostess) Nawel Kefif
Physiotherapeut Frédéric Guesdon
Nachbarin (Paar) Sarah Boukhennoufa
Nachbar (Paar) Nordine Kefif
Sachbearbeiter Präfektur Thomas Blanchard
Kollegin Sachbearbeiter Jane Resmond
Anwältin Laurence Masliah
Omar Marwane Sabri
CAST
Zohra Rhim Ibrir
Arzt Thierry Cantin
Busfahrer Didier Cuillierier
Nesrins Tochter Khadra Khadra Bekkouche
Nesrins Tochter Imane Nouria Lakhrissi
Nesrin Sadya Bekkouche
Farid Hassane Ziani
Oma Zoulikha Ibrir
Zohras Kollegin Amandine Demuynck
Nachbarin (Hostess) Nawel Kefif
Physiotherapeut Frédéric Guesdon
Nachbarin (Paar) Sarah Boukhennoufa
Nachbar (Paar) Nordine Kefif
Sachbearbeiter Präfektur Thomas Blanchard
Kollegin Sachbearbeiter Jane Resmond
Anwältin Laurence Masliah
Omar Marwane Sabri